Der Oberhessische Verein für Volksbildung von 1893
Von Ursula Wöll
Sein Name musste für eine pathologische Neigung herhalten, den Masochismus. Die Rede ist von Dr. Leopold von Sacher-Masoch (Bild), der die Lust an der Unterwerfung in seiner Novelle „Venus im Pelz“ beschrieben hatte. Nach einem unsteten Leben wohnte der Vielschreiber zuletzt in Lindheim in der Wetterau, wo er am 9. März 1895, also vor 120 Jahren verstarb. In Lindheim gründete er, zusammen mit seiner zweiten Frau Hulda Meister, den „Oberhessischen Verein für Volksbildung“. Durch Kultur- und Bildungsangebote wollten beide der judenfeindlichen Stimmung auf dem Land entgegentreten. Der Verein traf ein Bedürfnis. In kurzer Zeit entstanden über 20 Ortsgruppen in den umliegenden Dörfern, die Bücher ausliehen, Theater spielten, musizierten oder Vorträge anboten, und das meist vor vollen Sälen.
Bildung gegen Antisemitismus
Lindheim ist heute ein Stadtteil von Altenstadt. 1876 hatte die zweite Frau des Schriftstellers, Hulda, geborene Meister, das Herrenhaus neben dem Schloss zusammen mit einem Teil des Schlossparks von ihrem Erbe gekauft. In diesem, heute mit einer Gedenktafel versehenen Haus starb am 9. März 1895 Leopold von Sacher-Masoch mit nur 61 Jahren. Der Pfarrer hielt nichts von dem Sozialreformer und verbot, die Glocken zu läuten. Aber der fortschrittliche Bürgermeister setzte das Verbot außer Kraft. So begleitete dann am 12. März 1895 unter Geläut ein endloser Leichenzug den Toten die 12 Kilometer bis zum Bahnhof Ranstadt, von wo der Sarg zum Krematorium in Heidelberg transportiert wurde. An dem Trauerzug nahmen viele Einwohner und „die Gesangvereine aus Lindheim und Eichen sowie die Musikvereine aus Lindheim-Düdelsheim-Altenstadt und Echzell teil, welche abwechselnd Trauermärsche und Choräle bis zum Bahnhof Ranstadt spielten. Niemals vorher und nie wieder hat es einen ähnlichen Trauerzug gegeben, der den Toten 12 Kilometer weit durch die stillen oberhessischen Dörfer von Lindheim bis zum Bahnhof Ranstadt begleitete.“ Das Schauspiel wiederholte sich bei der Rückkehr der Urne. Die erwähnten Vereine waren mit Unterstützung des nun toten Sacher-Masoch entstanden.
Das Zitat stammt aus der 1993 von Heinrich Mimberg verfassten Jubiläumsschrift „100 Jahre Musikverein Echzell‘. Der am 1. Dezember 1893 in der Gaststätte ‚Seybold‘ gegründete ‚Musikverein Echzell‘ mit damals 16 Musikanten besteht nämlich noch heute. Die Jubiläumsschrift von 1993 schreibt über seine Gründung: „Fruchtbar wirkte sich auf den neuen Verein dabei eine Spende von Herrn Leopold von Sacher-Masoch, wohnhaft im Lindheimer Schloß, in Höhe von 500 Reichsmark aus. Von diesem Betrag wurden die ersten Instrumente gekauft und die entsprechenden Noten angeschafft, um eine musikalische Mitwirkung bei Veranstaltungen zu gewährleisten.“ Weit mehr als die den Trauerzug begleitenden Vereine gingen auf die Initiative Sacher-Masochs zurück. Neben Musik- und Gesangvereinen wurden Volksbühnen gegründet, außer in Lindheim auch in Echzell, Bleichenbach, Nidda und am 7. Januar 1894 in Bingenheim. Die Vorstellungen dieser Theatergruppen fanden besonderen Anklang. Die damalige Zeitung ‚Büdinger Allgemeiner Anzeiger‘ berichtete wiederholt von Aufführungen mit über 400 Besuchern, so in der ‚Traube‘ in Echzell, wo sich die Zuschauer sogar auf dem Vorplatz des Saales drängten. Das Ehepaar Sacher-Masoch mit seinen drei Kindern beteiligte sich aktiv an dieser Theaterarbeit. Frau Hulda entwarf selbst die Kostüme und half beim Nähen. In einem Pferde-Omnibus mit Kutscher auf dem Bock fuhr man zu den Vorstellungen in die Dörfer und transportierte dabei auch die Requisiten.
Welchen Zulauf die neuen Volksbibliotheken hatten, ist im Dunkel der Geschichte versunken. Wer für nur 1 Reichsmark pro Jahr Mitglied des Volksbildungsvereins wurde, durfte nicht nur die Büchereien gratis nutzen, sondern hatte auch 3 Theatervorstellungen pro Jahr frei. Theaterstücke und Leihbücher-Angebot berücksichtigten den Geschmack des Publikums, nur peu á peu sollten auch die Klassiker die Dörfer erobern. Mitstreiter fanden die Sacher-Masochs vor allem und zuerst unter den Schullehrern. Etliche erklärten sich bereit, Vorträge für den Bildungsverein zu halten, die ebenfalls die Gasthaus-Säle füllten. Namentlich bekannt blieben die Lehrer Nürnberger und Kretzmüller aus Ranstadt, Karl Hofmann aus Lindheim, Ziegler aus Eichen, Simon und Barth aus Echzell und Winn aus Staden. Der anfangs vorsichtig beäugte, aber bald beliebte neue Einwohner im Herrenhaus, dem ein anrüchiger Ruf vorauseilte, unterstützte nicht nur den Bau von Lehrerwohnungen und schaffte Lehrmittel für die Dorfschulen an. Sein Verein vergab auch Stipendien für Landwirtschafts- und Haushaltsschulen. Und als der Bau einer Wasserleitung in Lindheim in finanzielle Turbulenzen geriet, sicherte Sacher-Masoch die Restfinanzierung, so dass Lindheim als erstes oberhessisches Dorf mit fließendem Wasser ein Beispiel für andere Orte wurde.
Schreiben ums liebe Geld
Die Familie Sacher-Masoch lebte einfach. Der Vielschreiber war auch in Lindheim dazu verdammt, ums liebe Geld zu schreiben. Die Gelder für seinen Volksbildungsverein hatte er wohl von begüterten Sponsoren in Frankfurt. Leopold von Sacher-Masoch war in Lemberg am östlichen Rand der k.k. Monarchie aufgewachsen. Er erlebte hier, wie Judenpogrome die jüdische Bevölkerung ängstigten. Der sensible, feinfühlige Junge, selbst aus einer nichtjüdischen Familie stammend, vergaß dieses Leid nicht, auch wenn er später seine Wohnorte häufig wechselte: Graz, Wien, Italien, Paris, Leipzig. Überall scheiterte der bald europaweit berühmte Schriftsteller auf der persönlichen Ebene. Er war wohl zu vertrauensselig und, im Gegensatz zu seiner zweiten Frau Hulda, in den praktischen Dingen des Lebens völlig hilflos. Dabei wird er als äußerst charmant, geistvoll und weltläufig in seinem Auftreten geschildert, auch als sehr kontaktfähig. Das trifft auch auf Hulda Meister zu, die mehrsprachig war und bis Chile gereist war. So könnte Sacher-Masoch auch jüdische finanzielle Quellen für sein Reformwerk erschlossen haben. Zumal er mit dem Bildungsverein vor allem den grassierenden Antisemitismus eindämmen wollte.
Er war nämlich in Lindheim erneut mit den Aversionen der Landbevölkerung gegen jüdische Mitbürger konfrontiert. Die antisemitisch und antiziganistisch gefärbten Werke des als Pfarrer in Lindheim tätigen und 1859 gestorbenen Volksschriftstellers Rudolf Oeser etwa erfuhren viele Auflagen. Ob der Volksbildungsverein sein Ziel, ein humaneres Bewusstsein zu erzeugen, erreicht hätte, bleibt Spekulation. Denn nach dem Tod Sacher-Masochs siechten die Gruppen bald vor sich hin und gaben ihren Geist auf. Bis auf den Musikverein Echzell. Dessen gegenwärtiger Vorsitzender Helmut Noll schickte mir die erwähnte Schrift zum 100jährigen Vereins-Jubiläum 1993, aus der ich Informationen entnahm. Bereits 1968 hatte Dr. Karl E. Demandt einen Text mit dem Titel ‚Leopold v. Sacher-Masoch und sein Oberhessischer Volksbildungsverein zwischen Schwarzen, Roten und Antisemiten‘ verfasst. Ich fand ihn im Buch von Michael Farin (Hg.), Leopold von Sacher-Masoch – Materialien zu Leben und Werk. Die Familie Demandt hatte das Herrenhaus gekauft, in dem sie bis heute lebt. Die Witwe Hulda von Sacher-Masoch war 1918 verstorben, ihr Sohn im 1. Weltkrieg gefallen, und die beiden Töchter zogen schließlich weg. Sie brachten die Urne mit der Asche ihres Vaters zuvor ins benachbarte Schloss, das 1929 abbrannte.