In die Freiheit gesägt

Vor 180 Jahren – Das Bravourstück von BabenhausenSchulz

Von Ursula Wöll

Der demokratische Oppositionelle Wilhelm Schulz (Bild) flüchtete vor 180 Jahren ganz spektakulär aus dem Gefängnis im Babenhausener Schloss. Es hatte sich „ein loch in sein Loch“ gemacht. Ohne seine Frau Caroline wäre die Flucht nicht möglich gewesen.

In die Freiheit gesägt

Versetzen Sie sich genau 180 Jahre zurück, also in den Dezember 1834. In Babenhausen im Großherzogtum Hessen ist die Vorbereitung eines Gefängnis-Ausbruchs in die entscheidende Phase getreten. Es ist ein Bravourstück, das seiner Verfilmung noch harrt. Wilhelm Schulz, ein demokratischer Oppositioneller, war wegen seiner Meinung zu 5 Jahren Festungshaft verurteilt und saß seit etlichen Monaten im als Gefängnis dienenden Babenhausener Schloss. Ein Jahr Untersuchungshaft in Darmstadt hatte er bereits hinter sich. Schon 1819/20 war er ein Jahr lang eingelocht gewesen. Das reichte, nun machte er sich „ein Loch in sein Loch“. In der Nacht vom 30. auf 31. Dezember 1834 sägte er die in vielen vorangegangenen Nächten geduldig angesägten Fenstergitter endgültig durch und seilte sich aus dem 3. (!) Stock ab, kletterte über die innere Mauer, lief über den zugefrorenen Wassergraben, kletterte über die Außenmauer und brachte sich mit einem achtstündigen Fußmarsch nach Frankreich in Sicherheit. Ein so ausgefuchstes Unternehmen bedarf logistischer Hilfe von außen.

Das Schloss in Babenhausen

Das Schloss in Babenhausen

„Die Ehen sind selten, in denen die Frau dem Manne die Freiheit nicht nimmt, sondern gibt“, schreibt Wilhelm später in dem ihm eigenen humorvoll-ironischen Stil. Denn ohne Caroline Schulz, geborene Sartorius, wäre sein kühner Ausbruch nicht möglich gewesen. Und die beiden wären nicht über Straßburg in Zürich gelandet, dem Ziel vieler Emigranten im Vormärz. Dort wohnten sie in der Spiegelgasse, Wand an Wand mit Georg Büchner auf demselben Flur. Sie holten dessen Braut Minna aus Straßburg ans Krankenbett des jungen Dichters und standen ihm bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1837 bei. Caroline Schulz beschrieb seine letzten Tage in ihrem Tagebuch und schickte Auszüge an die Familie Büchner nach Darmstadt, die dadurch erhalten blieben. Später wohnte das Paar in Zürich-Hottingen, gegenüber dem geflüchteten Ferdinand Freiligrath und dessen Frau, mit denen es sich befreundete.

Die unbekannte Caroline

Caroline muss eine bemerkenswerte Frau gewesen sein, mutig, belesen, intellektuell und fröhlich. Doch über sie ist kaum etwas archiviert. Es existiert offenbar nicht einmal ein Bildnis oder ein Schattenriss von ihr. Wilhelm Schulz schrieb zwar, dass sie sich beide von dem Maler Johann Baptist Kirner porträtieren ließen. Das dürfte um 1830 in München gewesen sein, aber wo sind diese Porträts? Caroline starb bereits 1847 mit nur 47 Jahren. So erlebte sie nicht mehr, dass Wilhelm Schulz 1848 als Abgeordneter in die Paulskirche einzog. Nach ihrem Tod war er so hilflos, dass ihm der junge Gottfried Keller ein halbes Jahr den Haushalt führte und er erneut heiratete. Nach seinem Tod 1860 vernichtete die zweite Ehefrau den Nachlass, vielleicht auch die Porträts?

Fest steht, dass Caroline als Tochter des Gymnasiallehrers Sartorius in Darmstadt aufwuchs. Sie kam öfter in den konspirativen Zirkel, der sich beim Bäcker Wilhelm Kahl traf, um über Zensur und allgegenwärtige Spitzel zu klagen und über Reformen zu debattieren. Sogar mehrmals besuchte auch der uns wohlbekannte Oppositionelle Friedrich Ludwig Weidig aus Butzbach diesen Zirkel in Darmstadt, dem auch Wilhelm angehörte. Wilhelm und Caroline verliebten sich, doch erst nach neunjähriger Verlobung heirateten beide am 27. März 1828. Er war da gerade 31 Jahre alt. Nach dem Ausscheiden aus dem Militär mit 350 Gulden Ruhegehalt versehen, hatte er Jura in Giessen, der einzigen Universität des Großherzogtums, studiert und dann in Erlangen mit einer philosophischen Arbeit promoviert. Sie war bei der Hochzeit mit 28 Jahren bereits ein spätes Mädchen, nach heutigen Begriffen eine tatkräftigee, gebildete und fröhliche Frau.

Flucht minutiös ins Werk gesetzt

Es wurde ein unruhiges Leben durch Berufsverbot und Ausweisung, und nun die Haft des publizistisch tätigen Mannes. Besuchen durfte Caroline ihn nicht, ihm aber schreiben. Ein reger Briefverkehr entstand, in dem beide zwischen die harmlosen, vom Zensor lesbaren Zeilen ihre Botschaften mit Tinte aus aufgelöstem Alaun schrieben, die erst nach Erwärmung sichtbar wurden. So wurde die Flucht minutiös ins Werk gesetzt. Caroline, die sich zwei Stübchen in Babenhausen gemietet hatte, wusste, was sie als nächstes einschmuggeln sollte und machte selbst Vorschläge. Bis hin zum Kaffeekochen und immer in fröhlich-forschem Ton. Doch die Nacht des Abseilens muss sie mehr Nerven als Wilhelm gekostet haben. Der erfuhr mittels Alauntinte, wo Caroline die Sachen versteckt hatte. Feile und Sägen erreichten ihn in einem Koffer mit doppeltem Boden und im Fuß einer Lampe, die Caroline abgeben durfte, weil der Gemahl so schlecht sah. „Wir geben unseren Gegnern die Lampe in die Hand und führen sie damit hinters Licht“, so ihr Kommentar. Sie gab auch Teppiche und Pelze ab, schließlich war es Winter. Diese dienten Wilhelm als Draperien, um das Geräusch seiner nächtlichen Sägearbeit zu dämpfen. Am Ende wurde ein ganzes Sofa bewilligt, dessen Unterseite mit 66 Ellen sehr starken Gurten zum Herablassen aus dem 3. Stock präpariert war.

Kurz nach Weihnachten drohte der Plan zu scheitern. Ein Aufseher wollte die Fenstergitter prüfen. In höchster Not bot ihm Wilhelm ein Glas von seinem Quittenlikör an, und der Mann vergaß seine Absicht. Wie schon oben verraten, gelang das gefährliche Unternehmen. Wegen der Kälte war die Wache in der Fluchtnacht in ihrer Stube geblieben. Wilhelm rutschte zwar immer schneller nach unten, doch holte er sich nur blutige Hände dabei. Der absichtlich verlorene Brief, der die Verfolger auf eine falsche Fährte nach Offenbach lockte, tat seine Wirkung. Und die Babenhausener verdienen ein Extralob: Sie gaben keines ihrer Pferde heraus, so dass sich die Fahndung verzögerte. Heute erinnern sie im von Ute und Georg Wittenberger geleiteten Museum an die historische Begebenheit. Über das Wiedersehen mit seiner Befreierin am 2. Januar 1835 im Elsass schreibt Wilhelm: „Das war einer jener seltenen Augenblicke, die ein ganzes Leben hindurch nachglänzen.“

Nachgedichteter Briefwechsel

Seine sorgfältig vorbereitete Flucht aus der Babenhausener Festung am Jahresende 1834 beschrieb Wilhelm Schulz selbst im „Briefwechsel eines Staatsgefangenen mit seiner Befreierin“, allerdings erst gut 11 Jahre später. Verlegt wurden die beiden Bändchen 1846 bei Bassermann in Mannheim, wo man etwas freier atmen konnte. Doch 1846 lagen dem Verfasser nur noch wenige der vielen Originalbriefe vor, die er mit Caroline während seiner Babenhausener Haftmonate wechselte. Will heißen, dass Wilhelm Schulz Teile des wirklichen Briefwechsels „nachdichtete“ und ihn überdies mit vielen Erläuterungen der historischen und privaten Situation anreicherte. So beschreibt er ausführlich seinen Werdegang oder lässt Caroline über das Babenhausener Dorfleben berichten. Schlimmer noch: Der Historiker Karl Esselborn vom Geschichts- und Heimatverein Babenhausen hat Wilhelms ausführlichen Text selbst etwas bearbeitet und 1934 (!) in der Reihe „Beiträge zur Geschichte Babenhausens in Vergangenheit und Gegenwart“ herausgegeben. Titel nun: „Eines hessischen Demagogen Werdegang, Verurteilung und Flucht aus seiner Babenhäuser Festungshaft“. Unter diesem Titel ist es in der Giessener Uni-Bücherei unter M 26131-35 ausleihbar.

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