Gedanken zur Erinnerungskultur
An die Opfer der NS-Militärjustiz – meinst Deserteure und sogenannte Wehrkraftzersetzer – erinnert jetzt ein Denkmal in Wien. Es setzt die positive Wende unserer Erinnerungskultur fort, über die viel zu spärlich berichtet wird, meint Landbote-Autorin Ursula Wöll.
Ein Denkmal für Deserteure
Ein Denkmal für die Opfer der NS-Militärjustiz wurde am 24. Oktober 2014 in Wien eingeweiht. Etwa 30000 Todesurteile fällte diese „Justiz“ unter Hitler, die meisten der Verurteilten waren Deserteure und sogenannte Wehrkraftzersetzer. Wurden sie einst als Vaterlandsverräter und Feiglinge diskriminiert, so zollt ihnen nun das unübersehbare, sogar begehbare Monument am zentralen Ballhausplatz endlich Respekt. Bei der Einweihung lobten der österreichische Bundespräsident und der Wiener Bürgermeister den Mut der Deserteure, die ihrem Gewissen folgten. Das dreistufige Monument trägt oben die Aufschrift „all alone“, um zu betonen, dass sie sich als Individuen widersetzten und allein gegen den Strom der Barbarei schwammen. Man könnte sie als Helden bezeichnen, wäre dieser Begriff nicht so abgenutzt. Die Form des Denkmals als ein riesiges X ist nicht sofort verständlich, der Künstler Olaf Nicolai sieht das X einerseits als Zeichen der Anonymität und andererseits als Statement selbstbewusster Setzung: „Man denke an die Namenswahl Malcolm X.“ Auch wenn ich das Trumm nicht unbedingt schön finde, es bereichert die Stadtlandschaft positiv, denn es mahnt davor, blind oder fanatisiert inhumane Anordnungen auszuführen.
Das Wiener Denkmal setzt die positive Wende unserer Erinnerungskultur fort, viel zu spärlich berichteten unsere Medien darüber. In Deutschland wurde das erste Deserteur-Denkmal im öffentlichen Raum im Jahr 2009 in Köln eingeweiht, und zwar am Appellhofplatz. Es hat im Gegensatz zum abgetreppten X eine lichte grazile Form. Sein Motto ist mit bunten Buchstaben quasi in den Himmel geschrieben, es endet mit einer Hommage an die Menschen, „die Zivilcourage zeigten, als die Mehrheit schwieg“. Solche Mahnmale lenken den Blick auch auf die Denkmäler für die Gefallenen der beiden Weltkriege und fordern indirekt auf, sich diese genauer anzusehen. In jedem noch so kleinen Ort stehen sie, meist an zentraler Stelle neben der Kirche oder am Friedhofseingang.
Nicht mehr zeitgemäße Kriegerdenkmäler
Und, mit Verlaub, ihre Botschaften sind nicht mehr zeitgemäß. Denn ein solches Denkmal sollte nicht nur an die gefallenen Personen erinnern, sondern auch zum Frieden mahnen. Wenn man davon absieht, dass die endlose Reihe der aufgeführten Toten an sich schon vor kriegerischen Gelüsten abschreckt, so sind die meisten der Monumente durch ihre Inschriften doch Kriegerdenkmäler und nicht Mahnungen zum Frieden. Die Gemeinden „danken“ oft ihren „tapferen Helden“, ja wofür? War es heldisch, in einem Eroberungskrieg mitzumachen? Die Inschrift „Wer den Tod im heilgen Kampfe fand, ruht auch in fremder Erde im Heimatland“ zeugt ja davon, dass sich zumindest die Überlebenden bewusst waren, dass es nicht um die ‚Rettung des Vaterlandes‘, sondern um Eroberungen ging.
Am Volkstrauertag, dieses Jahr am 16. November, werden wieder Kränze vor all diesen steinernen Monumenten niedergelegt. Das finde ich gut und richtig, das Erinnern toter Verwandter, Freunde oder Mitbürger ist Bestandteil einer jeden Kultur. Wieviel Schmerzen mussten Millionen von hoffnungsvollen jungen Männern erdulden, bevor sie im Dreck und Schlamm des Schlachtfeldes starben. Und wieviel seelisches Leid lösten die Nachrichten ihres Todes bei ihren Lieben aus. Wenn nur nicht diese unsäglichen Inschriften wären! In manchen Fällen hat man für die Toten des 2. Weltkrieges nicht ein eigenes Denkmal neben das alte gestellt, sondern die endlose Liste der erneut Gefallenen auf Tafeln einfach an das alte Denkmal geheftet. Da stehen nun sogar die für Hitlers Untaten Gefallenen unter dem Motto: „In Kampf und Not – Treu bis in den Tod“. Und überall wimmelt es von Halbreliefs, die Schwerter, Stahlhelme und Eiserne Kreuze darstellen, aber nirgends sieht man eine Friedenstaube.
Der Einflus steinerner Monumente
Viele Einwohner gehen selbst am Volkstrauertag scheinbar achtlos daran vorbei. Hat die Documenta-Künstlerin Sanja-Ivekovic recht, wenn sie steinernen Monumenten wenig Wirkung zutraut? Als sie von der österreichischen Stadt Rohrbach beauftragt wurde, ein Denkmal für die deportierten Sinti- und Roma-Einwohner zu entwerfen, grub sie ein historisches Foto aus. Auf ihm warten die Unglücklichen auf ihren Abtransport. Die Künstlerin bat nun die Rohrbacher, sich in Gruppen aufzuteilen und das Foto nachzustellen, also in die Haut der Deportierten zu schlüpfen. Nur das Video der Aktion ist bleibendes Denkmal. Es zeigt eine tiefe Betroffenheit in den Gesichtern der mitspielenden Männer, Frauen und Kinder.
Im Gegensatz zur Künstlerin glaube ich, dass steinerne Denkmäler die Atmosphäre eines Ortes sehr wohl beeinflussen, auch wenn man sie im Alltag kaum bewusst wahrnimmt. Ich jedenfalls würde lieber in einem Ort wohnen, der ein Mahnmal anstelle eines Kriegerdenkmals besitzt. In Dillenburg fand ich eines dieser seltenen Beispiele. Unter dem Motto „Der Mensch sei dem Menschen ein Heiliges“ wird an die Gefallenen der beiden Weltkriege sowie an die Opfer hinter der Front bis hin zu den Zwangsarbeitern erinnert.
Was also tun? Neben der aggressiven Steinskulptur eines Domes hängt eine erklärende Tafel: „Hier entstand im 13. Jahrhundert das frühgotische Südportal. Unterhalb der Steinfigur Marias mit dem Kinde zeigt sich die Darstellung eines Teufels, der einen Juden verschlingt. Angesichts der Pogrome gegen jüdische Mitbürger und des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden durch die Nationalsozialisten soll die Darstellung uns heute Mahnung sein.“ Man schlägt also die Figur nicht ab, betreibt keine Bilderstürmerei, sondern erklärt sie als Aussage eines überholten Denkens. Wäre das nicht auch da möglich, wo die Denkmäler für die Gefallenen allzu martialische Inschriften haben?