42 Nester besetzt
Von Anton J. Seib
Geduckt sitzt der Storch im Nest, etwa zehn Meter über den Wetterwiesen bei Steinfurth. Ab und an blinzelt er neugierig in die Frühlingssonne. Es ist ein warmer Aprilnachmittag, doch der große weiße Vogel schwingt sich nicht in die lauen Lüfte. Das Gelege soll schließlich warm bleiben.
Der Storch in der Wetterau
Es dauert nicht mehr lange und der Nachwuchs schlüpft. Nur einmal erhebt sich das grazile Tier. Denn mit mächtigem Schwingenschlag nähert sich der Partner. Er landet elegant auf dem Wagenrad großen Nest. Und schon geht das Begrüßungs-Geklapper los, das weit über den Wiesengrund bis hinüber zum Dorf zu vernehmen ist. Ein paar Kilometer bachaufwärts stelzt ein Storch elegant durch die Klosterwiesen zwischen Griedel und Rockenberg. Er pickt ein Bündel vertrocknetes Gras auf und fliegt mit seiner Liebesgabe für die Partnerin hinüber zum Horst. Die Störche sind wieder heimisch geworden in der Wetterau.
Und das schon seit einigen Jahren. Derzeit sind 42 Nester in der Region besetzt. Gezählt hat sie Udo Seum vom Naturschutzbund (Nabu) Wetterau. Die meisten dieser Storchennester thronen auf Pfählen. Sie wurden bereits vor Jahren vom Nabu in den Auengebieten von Wetter, Nidda und Horloff aufgestellt, mit finanzieller Hilfe des regionalen Energieversorgers Ovag.
Mit großem Erfolg. Das Nest in Steinfurth etwa ist zum fünften Mal Heimstatt für ein Adebar-Pärchen geworden. Dagegen wurde die Nisthilfe in den Klosterwiesen erstmals besiedelt. Das Storchenpaar ließ sich Ende März dort nieder, so der ehrenamtliche Betreuer der Klosterwiesen, Hubertus Hipke. Kaum zu glauben. Denn die Nisthilfe mitten im riesigen Feuchtbiotop mit seinem reichen Nahrungsangebot blieb 18 Jahre unberührt. 1996 erstmals aufgestellt, wurde es 2011 nochmals erneuert, offensichtlich diesmal zum Gefallen der Tiere.
300 Paare in Hessen
Nicht nur in der Wetterau kreisen seit Jahren wieder Adebare durch die Lüfte. Auch hessenweit ist die Wiederansiedlung der Störche eine Erfolgsgeschichte. 2012 brüteten 300 Paare. Sie zogen 650 Junge groß. Das war nicht immer so. Noch bis in die 1950er Jahre gehörten Störche zum Landschaftsbild in Hessen. Selbst in den Dörfern haben sich die großen Vögel angesiedelt. Sie nisteten auf Telegrafenmasten, Schornsteinen oder Schuldächern. Futter hatten sie genügend. Auf den Äckern oder in den Bachauen fanden sie Mäuse, Frösche, Larven und Würmer. Damit war es bald vorbei. Die Landwirte entdeckten Fungizide und Pestizide. Feuchtgebiete wurden rigoros trocken gelegt. Dürrekatatstrophen in der Sahelzone kamen dazu. In den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wurde in der Wetterau kein einziger Storch mehr gesehen.
Das ließ die Vogelschützer nicht ruhen. In den 1990er Jahren machten sie sich stark für die Ausweisung von Auenschutzgebieten. Exemplarisch sei das Feuchtgebiet Bingenheimer Ried genannt, das unter anderem auf Betreiben von Udo Seum angelegt wurde. In diesem inaturnahen Lebensraum wurden auch die ersten Storchenmasten installiert. Allmählich entdeckten einige Pioniere die neuen Nistmöglichkeiten. Seit 2005 wächst der Bestand der Weißstörche ständig, von zunächst neun Brutpaaren bis heute 42.
Um die Ansiedlung und das Zugverhalten der Weißstörche genauer kennenzulernen, werden die Jungtiere beringt. Im Wetteraukreis macht das Storchen-Papst Seum. Kehren die Störche im nächsten Frühling zurück, führt Vogelkundler genau Buch, wer sich niederlässt. Ausgerüstet mit einem Spektiv, einem speziellen Fernrohr für Ornithologen, inspiziert Seum die Nester und liest die Daten an den Ringen ab. „Die meisten Störche sind beringt“, so der ehrenamtliche Vogelkundler. Und die Ringe sind für Seum wie ein Logbuch. Sie geben Auskunft über Herkunft, Alter, Standorttreuen oder Zugverhalten. Der erste Storch wurde bereits 1902 beringt, seither wurde diese Identifizierungsmezthoder immer weiter verfeinert.
Legendenumwoben
Früher kündigten die Störche den nahenden Frühling an. Sie waren legendenumwoben, denn sie galten als wahre Langstreckenflieger. Ihre Route reichte von der Wetterau über Gibraltar bis nach Nordafrika – und zurück. Nur so konnten sie der kühlen Witterung im nördlichen Europa entfliehen. Heute haben sie sich dem Klimawandel angepasst. Viele fliegen nur noch noch nach Spanien oder Südfrankreich. Dort überwintern sie oft auf Müllkippen, dort finden sie reichlich Nahrung. Wohlgenährt kehren sie Monate später zurück und der Kreislauf beginnt von vorn.
Ob das Steinfurther Pärchen bereits früher dort nistete, weiß Seum nicht. Noch hat er den Horst im Wettertal nicht kontrolliert. Möglich ist es. Möglich ist aber auch eine andere Geschichte.
Die Storchen-Männchen kehren zuerst in die Brutgebiete zurück. Sie suchen geeignete Nester, am liebsten jene, die sie kennen, und besetzen sie. Denn Störche sind standorttreu. Aber nicht partnertreu. Nähert sich ein attraktives Weibchen, wird es begattet. Aber wehe, die frühere Partnerin kommt nach und stört das junge Glück. „Dann gibt es Kämpfe, die nicht selten zum Tod einer Kontrahentin führen. Gewinnt die alte Partnerin, wirft sie die Eier der besiegten Rivalin aus dem Nest und paart sich mit dem Männchen“, erzählt Seum. Mitunter spielen sich sogar regelrechte Liebesdramen ab. Seum: „In einem Fall flog die Vorjahrespartnerin zu einem anderen Nest, was ihrem früheren Partner gar nicht passte. Er folgte ihr und umwarb sie so heftig, dass sie wieder mit in ihr altes Nest flog.“
Noch ist die Erfolgsgeschichte nicht zu Ende. Jahr für Jahr werden weitere Storchen-Plateaus aufgestellt. Etwa in diesem Jahr in Berstadt und Leidhecken. Prompt ließen sich dort Paare nieder. Und manchmal schlägt auch hergebrachtes Verhalten durch. In Staden nistet ein Storchenpaar wie in früheren Zeiten auf einem Schornstein, ein anderes ebenfalls auf einem Kamin in einem Hofgut in Lindheim.
Immer wieder blicken die Menschen staunend in den Himmel und beobachten die grazilen Tiere bei ihren Flugmanövern. Wenn sie ein paar Flügelschlägen Höhe gewinnen, kreisend nach Thermik suchen, sich in die Höhe schrauben und anschließend minutenlang über uns schweben, dann wird aus einem Weißstorch plötzlich ein fabelhaftes Wesen: ein Langbein, ein Adebar, ein Kinderbringer oder ein Heilbot, der vom nahen Sommer kündet.
Störche und Mythen
Der Storch hat in Deutschland viele Namen: Heilebar, Heilbot oder Heinotter – vor allem aber Adebar. Diese aus dem Niederdeutschen kommende Bezeichnung bedeutet ursprünglich „Sumpfgänger“, wurde aber bald in „Glück und/oder Besitz bringend“ umgedeutet. Im deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm von 1891 heißt es: Wer das Glück hat, dass die Störche ihr Nest auf sein Haus oder seinen Schornstein bauen, der wird lang leben und reich werden.
Der Sage nach werden die Kinder vom Storch gebracht. Die Legende vom Storch, der die Kinder bringt, basiert wahrscheinlich auf altem Heilwissen und bezieht sich nicht auf den Schreitvogel, sondern auf das Heilkraut Storchschnabel (Geranium robertianum L.). Ein Tee aus dem Kraut, täglich von beiden Elternteilen kalt zu trinken, soll bisher versagten Kinderwunsch erfüllen.
Bei den alten Ägyptern war der Storch Sinnbild für kindliche Dankbarkeit. Die alten Griechen glaubten, dass flügge gewordene Störche ihre Eltern ernährten. Für die Römer war der Storch das Symbol für Elternliebe.
Bei vielen Völkern galten Störche als Glücksbringer. Deshalb war die Ansiedlung auf Gebäuden oder Tempeln erwünscht. In manchen Orten war es Brauch, dass der Türmer im Frühjahr die Ankunft der Störche mit einem besonderen Hornsignal allen anzeigen musste.
Dem Magen des Storches wurde besondere Heilkraft zugeschrieben, er galt als Seelenträger, weil er sich von im dem Boden lebenden Tieren nährte, die die Seelen Bestatteter aufgenommen hatten.
In vielen Ländern Südosteuropas im Nahen Osten oder in Nordafrika glaubten die Menschen, dass Störche die Toten verkörpern. Der griechische Philosoph Plutarch behauptete, Störche personifizierten die Seelen toter Poeten.
In manchen Teilen Europas sehen die Menschen im Storchen einen Vogel, der Glück, Wohlstand und Rekordernten bringt. So kommt der holländische Name des Storchs – Ooievaar – aus altdeutschem Odobero, das Glück bringen bedeutet, (Ode – Glück, baren – bringen). In Deutschland hat der Storch den Beinamen Meister Adebar.
Quellen:
Wer kennt Mythen, Legenden, Anekdoten rund um Meister Adebar? Die interessantesten Hinweise, die amüsantesten Geschichten werden prämiert.