In Gießen wird die Auswanderung nach Amerika dargestellt
von Ursula Wöll
„Es gab Gefühlsausbrüche, wenn der letzte, schmerzvolle Augenblick gekommen war und Europas Küste als schmaler, blauer Nebelstreif ins Meer sank“, so erinnert ein Amerikafahrer des 19. Jahrhunderts die Situation an Bord seines Dreimaster-Seglers. Spätestens dann, wenn das Festland endgültig verschwand, wurde den Auswanderern die Tragweite ihrer Entscheidung bewusst, weil sie unumkehrbar geworden war. Die Nerven lagen eh schon blank: der Abschied von Verwandten und Bekannten, von den Gräbern der Angehörigen, von den Farben, Tönen und Gerüchen der Heimat, dann die wochenlange Fahrt mit dem Wagen zur Küste, der erste Blick der Landbewohner auf die Wasserwüste, die qualvolle Enge im Zwischendeck, die Angst vor Stürmen und die Seekrankheit: Ähnliches müssen die Bootsflüchtlinge von heute empfinden, wenn sie sich in der Hoffnung auf ein besseres oder angstfreies Leben aufs Mittelmeer wagen. Nur dass ihre Situation noch prekärer ist, da sie im Gegensatz zu den historischen Auswanderinnen und Auswanderern nicht willkommen sind. Die Giessener Ausstellung „Aufbruch in die Utopie“ behandelt also ein historisches, aber hochaktuelles Thema.
Das sehr Interessierte Publikum bei der der Eröffnung der Ausstellen
Sieben Millionen gingen nach Amerika
Allein von 1815 bis 1914 wanderten 7 Millionen Deutsche nach Amerika aus, im Spitzenjahr 1854 waren es 230400. Schiere Not oder Angst vor Verfolgung trieb sie übers Meer. Heute nun fliehen Menschen vor Krieg, Armut und Verfolgung zu uns. Es erstaunt, dass das historische Drama unserer Vorfahren verdrängt wird und keinen Einfluss auf den Umgang mit den Asylsuchenden hat. Schon vor Jahren bildete sich daher eine überregionale Gruppe, um an die Parallelen zu erinnern und mehr Offenheit gegenüber den ImmigrantInnen unserer Tage zu erreichen. Etliche Mitglieder dieser „Reisenden Sommer-Republik“ kommen aus Giessen, wie der Leiter des Stadtarchivs Dr. Ludwig Brake und die Professorin. Rita Rohrbach. So ergab es sich, dass sich die Gruppe schließlich auf die „Giessener Auswanderergesellschaft“ konzentrierte, die 1834 weniger vor dem Hunger als vor der politischen Unterdrückung floh. Der Jurist Paul Follenius aus Giessen und der Pfarrer Friedrich Münch aus Niedergemünden konnten 500 Menschen für die Emigration begeistern, um in Amerika eine freie und demokratische Musterrepublik zu gründen. Diese sollte durch ihr positives Beispiel auch dazu beitragen, die feudalen Verhältnisse in der alten Heimat zum Tanzen zu bringen.
Es gibt viel zu sehen
Archive durchforstet
Die Mitglieder der Reisenden Sommer-Republik durchforsteten Archive und besuchten die Orte, die diese 500 Menschen vor so langer Zeit passiert hatten, um eine Utopie zu verwirklichen. Sie waren erstaunt über die vielen Spuren in Briefen und Tagebüchern, aber auch vor Ort in Missouri, wo die Überlebenden nach einer monatelangen strapaziòsen Odyssee sesshaft wurden und wo sie ihren Traum begraben mussten. Das Resultat dieser Zeitreise in die Vergangenheit? Ein reich bebildertes, gut lesbares Buch mit dem Titel ‚Aufbruch in die Utopie‘, das erstmals die Giessener Auswanderergesellschaft genau erforscht sowie generell über die historischen Auswandererstròme und deren Ursachen informiert. Außerdem eine großartige Ausstellung, die auf die Situation in den deutschen Kleinstaaten und die Schwierigkeiten in der Neuen Welt eingeht, aber auch die Recherchen der Reisenden Sommer-Republik einbezieht. Keine Angst, es ist nicht eine der etwas drögen Tafelausstellungen geworden. Die BesucherInnen werden einbezogen, dürfen mit Statements über die heutige Gesellschaft und eigene Utopien das Ganze komplettieren. Zwischen Großfotos an den Wänden sind Videos und, Akten auf groben Holzkisten arrangiert, es gibt viele Sitzgelegenheiten und gezimmerte Schreibtische für die Besucher.
Friedrich Münch war einer der Auswanderer
Auch in Bremen und St. Louis zu sehen
Die Ausstellung wird nach Giessen in Bremen und St. Louis gezeigt. Das war auch der Weg, den die 500 AuswandererInnen 1834 nahmen. Die eine Hälfte mit Paul Follenius traf in New Orleans ein, um dann auf einem Raddampfer den Mississippi hinaufzufahren. Durch die Cholera verlor sie dabei 40 Leute. Die zweite Hälfte mit Friedrich Münch fand kein Schiff in Bremerhaven und musste unter erbärmlichen Bedingungen 5 Wochen auf der Weserinsel ‚Harriersand‘ ausharren, bis sie auf der ‚Medora‘ nach Baltimore segeln konnte. Von da ging die Reise zu Land und Wasser nach Missouri, wobei Münch seinen jüngsten Sohn verlor. Da man den Kauf von Sklaven ablehnte und das Farmland eigenhändig beackerte, lagen die utopischen Ziele bald brach, zumal die Lebensbedingungen noch schwieriger als erwartet waren.. Die Giessener Auswanderergesellschaft löste sich auf, nur wenige, unter ihnen Münch, vergaßen ihren Traum von Gleichheit und Freiheit nicht. Sie agitierten gegen die Sklaverei und die Verachtung der indianischen Urbevölkerung, sie ließen sich in politische Gremien wählen, um ihre neue Heimat mitzugestalten. Damit erreichten sie Gesetze, die Sklavenhaltung in Missouri verboten. Ist ihre Utopie also wirklich gescheitert oder hat sich die Mühsal am Ende doch gelohnt?
aufbruch-in-die-utopie.net