Mit dem Fahrrad auf der Spurensuche nach einer revolutionären Flugschrift
Der Hessische Landbote ist symbolisch in die Wetterau zurück geholt worden. Redakteure des Wetterauer Landboten haben sich mit dem Fahrrad auf Spurensuche nach der revolutionären Flugschrift und ihren Verfassern Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig begeben. Hier ist der Bericht über die Tour.
Der Landbote kehrt zurück
Damit hatten wir nicht gerechnet: Es ist uns am 4. Oktober tatsächlich gelungen, den Hessischen Landboten zurück in die Wetterau zu bringen. Acht eng bedruckte Seiten auf einem Bogen handgeschöpften Büttenpapiers. Das 1834 verfasste Pamphlet gegen die deutschen Fürsten aus der Feder von Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig: „Ha! Du wärst Obrigkeit von Gott? Gott spendet Segen aus; Du raubst, du schindest, kerkerst ein, Du nicht von Gott, Tyrann!“
Es sollte eine symbolische Aktion sein. 180 Jahre nach dem vereitelten Versuch einer bürgerlichen Revolution in Hessen plante die Redaktion des Internet-Magazins „Wetterauer Landbote“ die Fahrt von Offenbach nach Butzbach. Sie sollte verdeutlichen, dass auch unser Medium die Macht- und Verteilungsfrage stellt. Und daran erinnern, dass Georg Büchner und sein Freund Schütz damals nachts und auf Umwegen das Manuskript des „Hessischen Landboten“ von Butzbach zum Drucker Preller nach Offenbach brachten. Sie mussten fürchten, der politischen Polizei in die Hände zu fallen.
Diese Angst blieb uns am Samstag erspart. Auch die Fahrt war deutlich komfortabler. Aus der Wetterau nach Offenbach kommt man heute binnen einer Stunde mit der Regionalbahn. Büchner und Schütz brauchten damals noch vier Tage. Für den Rückweg hatten wir Fahrräder dabei. Sechzig Kilometer bis Butzbach? – kein Problem!
Die Landboten-Presse stand in Frankfurt
Im Offenbacher Haus der Geschichte trafen wir zunächst Klaus Kroner. Der ehemalige Druckereileiter bewahrt die Geschichte des Druckgewerbes. Im Trägerverein der Grafischen Werkstatt für Technik und Kunst bemühte er sich 2013 um einen Faksimile-Nachdruck des Hessischen Landboten. Kroner: „Mir hat jeder erzählt, es gebe nur noch ein Original-Exemplar“. Kroner forschte nach – und fand ein Exemplar der zweiten Landbote-Auflage vom November 1834 im Staatsarchiv Marburg. Ein weiteres, von Mäusen angefressenes Exemplar aus der Familie von Georg Büchner liegt in Weimar. Und drei Exemplare vom Frühsommer 1834 fanden sich im Münchener Staatsarchiv.
Klaus Kroner prüfte die originalen Drucke ganz genau und stellte Seltsames fest: In der Titelzeile war das zweite t von „Darmstadt“ auf den Kopf gestellt. Und im legendären Satz „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ war von „Pallästen“ die Rede. Ein Landbote-Original hatte auch kein Ausrufe- sondern ein Fragezeichen am Ende. Jeder Drucker hätte diese Fehler sofort gesehen und berichtigt – davon ist Klaus Kroner überzeugt. Er vermutet, dass sie konspirative Botschaften sind. Aber was bedeuten sie?
Klar ist für den Druck-Experten auch, dass die die damals illegale Flugschrift nicht in der Offenbacher Druckerei an der Frankfurter Straße 7 vervielfältigt wurde, in der der revolutionär gesinnte Carl Preller damals arbeitete. „Ich musste feststellen, dass der Schrifttyp nicht in der Prellerschen Druckerei zur Verfügung stand“, so Klaus Kroner. Er vermutet, dass die Frankfurter Druckerei Sauerländer involviert war, die diesen Schrifttyp in ihren Setzkästen hatte.
Wie auch immer: Bevor wir auf unsere Drahtesel zur Fahrt in Richtung Friedberg und Butzbach stiegen, überreichte uns Klaus Kroner einen Hessischen Landboten auf Büttenpapier, in Originalgröße, nur wenig größer als das heutige A5-Format. „Davon haben wir 500 Faksimiles gedruckt“, erzählte Klaus Kroner stolz. „Auch das Papier wurde extra dafür hergestellt.“ Der Papiermacher setzte dazu die Pigmente ein, damit die Nachdrucke den Münchener Landboten-Originalen möglichst ähnlich wurden.
Sorgsam packten wir dieses geschichtliche Dokument in die Fahrradtasche. Nur noch wenige Exemplare sind mit Erläuterungen und einer Landkarte der hessischen Kleinstaaten des Jahres 1840 zu haben. Sie können über den Wetterauer Landboten bezogen werden (Email an info@wetterauer-landbote.)
Revolutionäre im Friedberger Kerker
Mit dem Hessischen Landboten im Gepäck radelten die Rechercheure vom Wetterauer Landboten am 4. Oktober von Offenbach in die Wetterau. Von Bischofsheim den Berg hinauf nach Niederdorfelden, über Gronau an die Nidda bis Friedberg. Sie brauchten dafür keine drei Tage wie anno 1834 der konspirativ reisende Georg Büchner, sondern gerade einmal zweieinhalb Stunden.
Warum Friedberg? Weil die Kreisstadt in den 1830er-Jahren eine Leidens-Station für revolutionär gesinnte Bürger war. In der Altstadt inhaftierte die Regierung 1834 etliche Studenten und junge Handwerker aus Gießen, denen sie die Beteiligung am gescheiterten Frankfurter Wachensturm vom 23. April 1834 vorwarf. Die heute noch stehende Faktorei des einstigen Klosters Arnsburg an der Kleinen Klostergasse 16 war damals Kaserne. Unterm Dach landeten die Revolutionäre in 16 Zellen. Ab April 1835 saß da auch Friedrich Ludwig Weidig ein, berichtete Landbote-Redakteur Bruno Rieb bei der Führung vor Ort. Die politische Polizei hatte Weidig in Ober-Gleen im Vogelsberg wegen Hochverrats verhaftet und ließ ihn zwei Monate in Friedberg schmoren, bis im Darmstädter Arresthaus für den Mitorganisator des Hambacher Festes und des Frankfurter Wachensturms die wahre Hölle begann. Fast zwei Jahre lang war Weidig dort den Schikanen des Untersuchungsrichters Georgi augesetzt, bis er sich im Februar verzweifelt selbst das Leben nahm.
Im Klosterbau saß auch der Friedberger Apotheker Theodor Trapp ein. Der Freund und Mitkämpfer Weidigs starb in der Haft mit nur 44 Jahren. Alle Bemühungen der angesehenen Familie Trapp, Hafterleichterungen zu erlangen, scheiterten. Trapps Mohren-Apotheke gibt es noch immer. Ihr ursprünglicher Standort an der Kaiserstraße 44 ist heute die Parfumerie Junker. Die heutige Mohren-Apotheke steht an der Einmündung der Haagstraße in die Kaiserstraße. Andrea Heck aus Friedberg kennt all diese Gebäude schon lange. „Aber mir war gar nicht klar, dass Friedberg, Butzbach und Darmstadt und Georg Büchner diese politische Bedeutung haben.“ Grund genug für die Friedbergerin, mit den Spurensuchern vom Wetterauer Landboten weiter nach Butzbach zu radeln.
Weidig ließ die Marseillaise singen
Angenommen, Friedrich Ludwig Weidig dürfte 177 Jahre nach seinem Tod das heimische Butzbach besuchen. Der 1837 gestorbene Pädagoge,Theologe und Schlussredakteur des Hessischen Landboten wäre sicher erstaunt über die Autos, das scheußliche Parkdeck, die Fastfood-Restaurants und Konsumtempel am Stadtrand. Trotzdem hätte Weidig keine Schwierigkeiten, etliche Stationen seines eigenen Lebens wiederzufinden. Der Weidig-Kenner und Museumsleiter Dieter Wolf zeigte sie am 4. Oktober den Spurensuchern des Wetterauer Landboten und ihren Gästen.
Noch immer steht am Kirchplatz 8 die dreistöckige Stadtschule, in der der Förstersohn Weidig selbst unterrichtet wurde und nach seinem Studium als Konrektor arbeitete. Über dem Schulzimmer wohnte er, so der Weidig-Kenner Dieter Wolf. 1824 zog Weidig gegenüber ins Rektoratshaus ein, dessen Fachwerk damals noch verputzt war.
22 Jahre lang war Weidig als Lehrer in Butzbach aktiv. Er baute am Schrenzer den ersten hessischen Turnplatz auf. Er ließ seine Schüler die Marseillaise singen und diskutierte im Geografieunterricht mit ihnen über die freiheitliche Verfassung der jungen USA. Weidig war auch in vielen Zeitschriften als politischer Autor aktiv, so Dieter Wolf. Er gehörte zu den Autoren der ersten Verfassung für das Großherzugtum Hessen. Und er drang darauf, demokratische Strukturen einzuführen.
Der Regierung gefiel das alles nicht. Die politische Polizei verhörte Weidig mehrfach, verhängte Hausarrest. Doch Weidig arbeitete konspirativ weiter, vernetzte unzufriedene Pfarrer, Apotheker, Gutsbesitzer und Handwerker. Konspirativ ließ er vier Ausgaben des „Leuchter und Beleuchter – der Hessen Notwehr“ und schließlich den Hessischen Landboten drucken. Mit seinen Butzbacher Freunden führte er offenbar mit Vergnügen die staatlichen Ermittler in die Irre. Vor dem einstigen Haus des Schreinermeister Kraus an der Guldengasse erzählte Dieter Wolf: „Hier suchten die Behörden vergeblich die Druckerpresse der Revolutionäre.“ Sie hatten falsche Hinweise darauf lanciert. Und druckten ein Spottgedicht über die großherzogliche Regierung und die missglückte Hausdurchsuchung auf Zetteln, die man gut in der Tasche verstauen und unter der Bevölkerung verteilen konnte.
Das ging nicht auf Dauer gut. Vor dem Haus Weiseler Straße 7 blieb Dieter Wolf wieder stehen. „Hier wohnte die Kappenmacher-Familie Zeuner. Karl Zeuner war Weidigs Schatten und Helfer. Er hat auch in der Haft nie ein Geständnis abgelegt“, so der Historiker. Am Abend des 1. August 1834 klopfte Georg Büchner bei Karl Zeuner an, um ihn und Weidig zu warnen: Die Aktion „Hessischer Landbote“ war aufgeflogen. Bis zum 5. August klapperte Büchner in Friedberg, Dorheim, Petterweil, Offenbach und Frankfurt all jene Bürger ab, die nun Verhöre durch die Polizei fürchten mussten.
Nur noch wenige Wochen konnte Friedrich Ludwig Weidig danach in seinem Elternhaus an der Langgasse 20 wohnen. Es ist heute proper restauriert und Sitz der Butzbacher Zeitung. Seit 1827 hatte Weidig hier gelebt, als er mit dem Rektoren-Amt endlich genug Geld verdiente, um seine Cousine Amalie Hofmann zu heiraten. Sie war laut Dieter Wolf als Tochter eines Landrichters in Hungen aufgewachsen. Ihr Elternhaus steht heute als Verwaltungsgebäude im Hessenpark bei Neu-Anspach.
Amalie Weidig hatte großen Anteil an den Reformbemühungen ihres Gatten. Sie gründete eine Privatschule und gab Musikunterricht. Die beiden gemeinsamen Kinder konnten nicht mehr lange in der Obhut der Eltern leben. Friedrich Ludwig Weidig starb 1837 nach fast zweijähriger Folterhaft im Darmstädter Kerker. Der Märtyrertod wurde ein Antrieb für die Demokratiebewegung von 1848 und führte dazu, dass bis heute alle Gerichtsverfahren in Deutschland öffentlich stattfinden müssen. Für seine eigene Familie war Weidigs Tod dramatisch. Die Ehefrau Amalie konnte ihn nicht verwinden. Sie starb 1839 mit nur 42 Jahren in einer Gießener Mietwohnung am „Nervenfieber“. Sohn Wilhelm und Tochter Amalie Friedegard wuchsen bei einem Bruder Weidigs in Homberg an der Ohm auf. Sie starben 1884 und 1906, ohne eigene Familien zu gründen.
Viele Details über Weidig und sein Leben in Butzbach erzählt die neue Broschüre „Butzbacher Persönlichkeiten – Friedrich Ludwig Weidig (1791-1837)“. Sie ist für 2,40 Euro im städtischen Museum an der Färbgasse 16 in Butzbach zu kaufen.