Flucht vor der Armut

Landgängertum und Auswanderung zu Zeiten Büchners

Von Corinna Willführ

auswandererAuswanderung aus Armut ist nichts Neues. Um der Not im eigenen Lande zu entgehen, flohen zu Beginn des 19. Jahrunderts viele Deutsche nach Nordamerika – in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Der Wetterauer Landbote ist mit einer Artikelserie auf den Spuren des Hessischen Landboten, seiner Verfasser Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig und ihrer Zeit. Am Samstag, 4. Oktober, besichtigen Landbote-Redakteure die Orte, an denen sich Büchner und Weidig aufgehalten haben. Wer möchte, kann mitkommen (siehe Außenspalte).

Flucht vor der Armut

1834 – das Jahr, in dem der Medizinstudent Georg Büchner aus Darmstadt den „Hessischen Landboten“ verfasst, der Butzbacher Rektor Friedrich Ludwig Weidig denselben überarbeitet. Das Jahr, in dem Mitstreiter der beiden die illegale sozialrevolutionäre Flugschrift mit ihrer Botschaft „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ zu den Bauern und Handwerkern in Oberhessen bringen. Ihre Verfasser werden steckbrieflich gesucht. Büchner geht ins Exil und stirbt drei Jahre später an Typhus in Zürich. Weidig wird verhaftet und begeht 1837 nach drei Jahren Haft im Darmstädter Arrest Selbstmord.

1834 – das Jahr, in dem in dem Dorf Hoch-Weisel (heute ein Stadtteil von Butzbach) 681 Männer, Frauen und Kinder leben. Unter ärmlichsten Verhältnissen. Denn das Ackerland lieferte vor allem in trockenen Jahren nur mäßige Ernten. Durch die Realteilung – die einzelnen Felder werden nach Kinderzahl vergeben – ist es zersplittert. Von der Ernte der kleinen Parzellen und der Viehzucht lassen sich die vielköpfigen Familien kaum ernähren, selbst wenn sie Eier oder Kartoffeln zum Verkauf nach Friedberg oder Frankfurt bringen. Zwar kann der ein oder andere als Tagelöhner oder Knecht, als Magd oder Dienstmädchen eine Anstellung finden, doch die Zukunftsaussichten sind  schlecht. Von der beginnenden Industrialisierung sind die Hoch-Weiseler noch weit entfernt. So entscheiden nicht wenige von ihnen, ins Ausland zu gehen.

Fliegenwedel im Gepäck

Zunächst nach Belgien und Holland, die man mit dem Schiff über den Rhein recht gut erreichen kann. Aber auch nach England, Mitte der 1850er Jahre nach Russland und nicht zuletzt auf der „Pariser Straße“ nach Frankreich. In ihrem Gepäck: Im Winter aus Weidenholz handgefertigte und bemalte Fliegenwedel.

Fliegenwede im Museum in Butzbach. Fotos: Anton J. Seib)

Fliegenwede im Museum in Butzbach. Fotos: Anton J. Seib)

„Oalemännche“, ein Vierkantstab mit vier dünnen Querhölzern, in die bemalte Holzspäne drapiert werden. Oder „Fireplaces“, Holzteller mit Rosenblüten aus Span, die an geflochtenen Zöpfen ebenfalls aus Span zur Dekoration über den Kamin gehängt werden. Oder Reiserbesen zum Fegen in Haus und Hof. „Die Landgänger aus den Orten um Butzbach wandern zwischen der Oes und dem Hausberg auf der Hinterwaldschneise über den Hintersten Kopf, Bodenrod und den Wellerweg, den „Westerwälderweg“ zum Rhein und von dort nach Frankreich.“ Doch das Los der Oberhessen als Straßenkehrer in Paris ist erbärmlich:  „Das Geheimnis ihres Handwerks liegt denn auch weniger in der Kunst nicht zu verhungern, als in der Kunst, Geld zu verdienen“, berichtet Ludwig Bamberger knapp 50 Jahre später in seinem Werk „Die Paläste und Baudenkmäler in Paris“. In der französischen Hauptstadt kümmert sich der Deutsche Hilfsverein um die deutschen Landgänger. 1848 gründet der Pater Chable im Stadtteil La Vilette eine Deutsche Schule für rund 300 Familien. Friedrich von Bodelschwingh, nach dem die Bodelschwingschen Anstalten von Bethel benannt sind, baut im gleichen Stadtteil zehn Jahre später ein Missionszentrum Deutsche auf.

Tödliche Überfahrt

Doch auch in der Heimat ist die Situation weiterhin schlecht. Neue Hoffnung verspricht die Möglichkeit, nach Nordamerika zu reisen. Mit dem Schiff dritter Klasse von Bremerhaven aus, unter Deck, unter katastrophalen hygienischen Zuständen, über viele Wochen. Eine einzige Strapaze, die immer mehr Menschen auf sich nehmen – in Hoch-Weisel sinkt die Bevölkerungszahl von 782 im Jahr 1850 durch Auswanderung auf 648 Menschen im Jahr 1900. Und die nicht wenige mit dem Leben bezahlen. Wie die Brüder Charles Alexander Beuth und Wilhelm Beuth, Söhne des Nagelschmieds Ernst Beuth aus dem Dorf Espa, nur wenige Kilometer von Hoch-Weisel entfernt. Die beiden sind am 19. Januar 1883 mit der „Cimbria“ auf dem Weg in die Neue Welt, als das Schiff im Nebel vor Borkum mit dem englischen Dampfer „Sultan“ zusammenstößt und mit mehreren hundert Menschen an Bord untergeht. Dass man heute noch von ihrem Schicksal weiß, ist der Pfarrfrau Lydia Schmittborn, einer Nachbarin der Beuths, zu verdanken. Sie schrieb die Strophen zum „Untergang der Cimbria“.

Erfolgreicher Fliegenwedel-Handel

1834 – „Im Intelligenzblatt für die Provinz Oberhessen im Allgemeinen, den Kreis Friedberg und die angrenzenden Bezirke im Besonderen“ erscheint am Sonnabend, 1. März, ein Artikel unter der Überschrift „Die Fliegenwedelhändler“. Von Menschen aus Espa im Herzogthum Nassau ist da die Rede, die nach England gezogen waren und dort erfolgreich ihre Fliegenwedel verkauft hatten und „mit einigen englischen Goldstücken“ zurück in die Heimat gekehrt waren. „Das Gold reizte zu größerer Teilnahme; es zogen bald mehr mit…..Bald wurde Musik dort gemacht, bald getanzt nach deutscher Weise oder gesungen…. Später fand sich, dass die jungen, frischen Mädchen den reichen Engländern besonders wohl gefielen. Das merkten sich die Fliegenwedelhändler, und dungen sich Mädchen auf bestimmte Zeit, die mitgenommen, dort gemeinen Wollüstlingen Preis gegeben wurden und als Gefallene mit geringem Lohne wieder zurückkamen. Der größte Theil des Sündengeldes war in den Händen derer geblieben, die sie mitgenommen hatten.“

Seelenverkäufer
leier

Drehleier

„Die sie mitgenommen hatten“, erhalten bald die Bezeichnung „Seelenverkäufer“ (es sind Männer ebenso wie sogenannte Mägdehalterinnen), haben sie doch die Mädchen, die zum Spiel von Drehleier oder Mundharmonika tanzen oder tanzen müssen, ihren Eltern regelrecht abgekauft – ein florierender Mädchenhandel beginnt. Und dieser soll noch größere Ausmaße mit der Auswanderung nach Nordamerika in den 1860ern annehmen. „Auf, ihr Brüder, lasst uns wandern fröhlich nach Amerika, unsere Schwestern sind schon drüben in Philadelphia“ heißt es in einem Landgänger-Lied. Und in Kalifornien, von den Landgängern auch „Calfrum“ oder „Kalifoni“ genannt. Es sind die Jahre des „Goldrauschs“. Die Saloons sind voller Männer. Da sind die jungen Frauen aus Oberhessen gern gesehen. Man nennt sie nach dem Instrument (Drehleier = Hurdy Gurdy), zu dem sie tanzen, Hurdy-Gurdy-Girls. Auch wenn die Namen zahlreicher Auswanderer bekannt sind, eine verbürgte authentische Lebensgeschichte eines Hurdy-Gurdy-Girls aus der Region gibt es nicht – nicht die einer Frau, die ihr Glück machte, noch einer, die durch die Verhältnisse in die Prostitution gezwungen war.

Indes aber die unter dem Titel „Hurdy Gurdy“ veröffentlichte Erzählung des Espaer Pfarrers Ottokar Schupp, der sich um den Verfall der Sitten sorgte, weil die aus Amerika zurückgekehrten „Weiber Kaffee-, Tee- und Schokoladentrinkerinnen“ seien. Wogegen die Espaer heftig protestierten. Allein: Bereits das 1836 von den nassauischen und hessischen Behörden unter Strafandrohung erlassene Verbot des Fliegenhandels und der „Ausreise“ von nichtverheirateten Frauen wurde weiter vielfach ignoriert – bis sich die Verhältnisse in den Dörfern rund um Butzbach änderten. Dies dauerte noch bis Ende des 19. Jahrhunderts, bis die Industrialisierung auch der Bevölkerung in und um Butzbach neue Beschäftigungsmöglichkeiten brachte. Aus Espa soll 1877 der letzte Landgänger nach Amerika aufgebrochen sein, in Hoch-Weisel der letzte nach Westeuropa um 1865.

„Ich bewundere den Mut und die Kraft dieser Menschen, aber auch ihre Kreativität, die sie aus ihrer Armut entwickelten“, schrieb Holde Stubenrauch im Vorwort zu dem Katalog „Hurdy-Gurdy-Girls – von Espa in die ganze Welt“. 1992 brachte die Galeristin sieben Künstlerinnen und Künstler zu diesem Projekt zusammen, das mit ihrer persönlichen Geschichte, aber auch einem Stück der hessischen Geschichte des 19. Jahrhunderts zu tun hat.

Abspann:

1834 – hießen sie Landgänger, waren Männer, Frauen, Kinder, die aus Armut und Not ihre Heimat verließen, um in einem fremden Land ein Auskommen zu finden.

2014 – heißen sie Flüchtlinge.

1834 – erschien der „Hessische Landbote“

2014 – gibt es den „Neuen Landboten“.

Zu empfehlen:

Die Dauer-Ausstellung „Hessen hybrid“ zum Thema Auswanderung aus der Region im Freilichtmuseum Hessenpark in Neu-Anspach, ein Besuch im Museum der Stadt Butzbach mit Original-Exponaten aus der Zeit der Landgänger.

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