Speierling abgeerntet
von Ursula Wöll
Der Saft von Speierlingen ist begehrt. Er wird benötigt, um Apfelwein ohne Chemie zu veredeln. In Ockstadt hat sich ein Feldspeierling unter ein Heer von Kirschbäumen verirrt. „Der Dicke von Ockstadt“ wird der mächtige Baum gannnt.
Der Dicke von Ockstadt
Ich bin zu spät gekommen, der „Dicke von Ockstadt“ ist bereits abgeerntet. Wahrscheinlich von der Kelterei Possmann, die saubere Arbeit leistete. Nur zwei gelbliche Früchtchen finde ich noch am Boden. Das Gras ist kurz geschnitten, damit die Hebebühne vom Feldweg auf die Wiese neben den riesigen Speierling rollen konnte. Von ihr aus werden alljährlich die kleinen birnenförmigen Früchte mit Stangen abgeschlagen und dann zentnerweise gesammelt. Als Zugabe zum Äppelwoi natürlich, was weniger Chemie erforderlich macht und den Geschmack abrundet. Dafür müssen die Speierling-Früchte in noch unreifem Zustand sein, und deshalb fand ich am 26. September den prächtigen Baum schon ohne Früchte vor.
Unter lauter Kirschbäume verirrt
Er ist gar nicht so einfach zu finden in den Kirschwiesen rund um Ockstadt, die glücklicherweise noch immer eher an Streuobstwiesen denn an Plantagen erinnern und auch mal einen Apfelbaum vorzeigen. Als „Feldspeierling“ hat sich der Dicke mit seinen fiedrigen Blättern also unter lauter Kirschbäume verirrt und hatte Platz genug, eine breit ausladende, vielästige Krone zu bilden. Ein Hinweis auf seinem dicken Stamm mit der rissigen Borke weist ihn als Naturdenkmal aus, denn sein Alter wird auf 200 Jahre geschätzt. Damit ist der Dicke einer der ältesten seiner Art. Außerdem gehören Speierlinge zu den bedrohten Baumarten. Schon von altgriechischen und römischen Autoren erwähnt, gibt es nur noch etwa 6000 Bäume in ganz Deutschland, davon 500 Bäume in ganz Hessen. In anderen Ländern sieht es nicht besser aus. Wenn Brecht ahnen würde, dass wir, 75 Jahre nach seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“, heute in Zeiten leben, in denen ein Gespräch über Bäume zur Pflicht wird!
Die meisten Speierlinge stehen im Rhein-Maingebiet, der Heimat des „Stöffchens“. Hier existieren auch die großen Keltereien, die zur Zeit die regional geernteten Äpfel annehmen und verarbeiten. Auf meinem Weg nach Ockstadt hole ich mir einen kleinen Kanister frisch gepressten, dunkeltrüben Most bei der Firma Müller in Ostheim. Hatte ich aus früheren Jahren lange Pkw-Schlangen vor der Apfelwaage in Erinnerung, so waren es jetzt nur wenige AnlieferInnen. Da es in diesem Jahr reichlich Äpfel gibt, vergütet die Firma einen Zentner mit nur 4 Euro. Vielleicht sind viele Leute auch zu bequem geworden, sich mit dem anstrengenden Ernten abzugeben? Eine Leiter muss angestellt werden, ein Apfelpflücker an langer Stange holt einzelne unerreichbare Früchte, und vom Sammeln des Fallobstes schmerzt der Rücken. Aber welche Entschädigung bietet die herbstliche Farbpalette der Natur, die durch die tiefer stehende Sonne zugleich sanft und intensiv leuchtet! Dazu das Schreien eines Eichelhähers und das letzte Summen von Bienen am blühenden Efeu, der Laubgeruch.
Seit Jahrhunderten gehört die Apfelernte zur Kultur des heimischen Raumes und das Pflücken der duftenden Äpfel im Garten zu meinen schönen Kindheitserinnerungen. Die ansehnlichsten Früchte wurden im Keller auf Holzstiegen gelagert, so reichlich, dass ein Teil im Frühjahr verfault wieder entfernt werden musste. Der Rest wurde zu einer kleinen Kelterei gebracht. Viele dieser örtlichen Pressen haben inzwischen aufgegeben, leider. Doch in bezug auf die Kultur rund um den Apfel ist Nostalgie übertrieben, denn noch ist sie lebendig, wenn sie auch kränkelt. Und nachdem der Speierling 1993 zum Baum des Jahres gekürt wurde, werden auch wieder junge Bäume dieser langsam wachsenden Baumart gepflanzt, die erst nach 15 Jahren Früchte trägt.