Ralf Meisezahl, Stadtschäfer von Hungen
Von Michael Schlag (Text, Film und Fotos)
Die Schäferei spielt in der Stadt Hungen von je her eine besondere Rolle. Alle zwei Jahre am letzten Augustwochenende ist Hungen Schauplatz des hessischen Schäferfestes, kürzlich eröffnete eine Schaukäserei, die auch regionalen Schafkäse produziert, die Schafbeweidung in den „Wetterauer Hutungen“ wird als Naturschutzprojekt von der Europäischen Union gefördert. Und als einzige Kommune in Hessen hat die Stadt Hungen mit Ralf Meisezahl bis heute einen Stadtschäfer, der fest bei der Stadt angestellt ist. Michael Schlag hat ihn begleitet.
Schäfer im öffentlichen Dienst
Ein klarer, sonniger Tag am „Barbarasee“ bei Hungen-Bellersheim, auf den Uferwiesen grasen 600 Merino-Schafe mit ihren Lämmern. Die Herde bewegt sich rund um den See langsam vorwärts, bis sie am Abend den vorbereiteten Nachtpferch erreicht hat. „Denen geht es gut hier“, sagt Stadtschäfer Ralf Meisezahl, „frische Luft, gutes Futter und Wasser haben sie auch genug.“ Die Hungener Schafherde indes gehört nicht der Stadt, sondern örtlichen Landwirten, die ihre Tiere die ganze Weidesaison in die Obhut des Stadtschäfers geben, der mit ihnen, wie seit Jahrhunderten üblich, über die Weiden in der Gemarkung zieht.
Treibezeiten nach Fahrplan
Insgesamt stehen dem Stadtschäfer 150 Hektar Grünland zur Verfügung, verteilt auf viele kleine Flächen im Umkreis von etwa 15 Kilometern; das Umtreiben der Herde gehört alle paar Tage zum Geschäft. Vier oder fünf Kilometer können es an einem Tag bis zur nächsten Weide sein und „manchmal ist es schwierig“, sagt Meisezahl. Durch das Gebiet südlich von Gießen führen Bundes- und Landstraßen und wenn die Tagesstrecke über eine Bahnlinie geht, das passiert drei bis vier Mal im Jahr, dann muss er sich mit den Treibezeiten nach dem Fahrplan richten. Abgesehen vom nächtlichen Pferch sind Zäune in der Stadtschäferei die Ausnahme, „ich bin kein Zaunkönig“, sagt Meisezahl, „es ist Hüteschäferei und das soll auch so bleiben“. Denn Hüteschäferei, das ist es in Hungen seit mindestens 500 Jahren, die älteste Erwähnung eines Stadtschäfers findet sich in den Kirchenbüchern bereits im Jahr 1606. Eine frühe Beschreibung seiner Aufgaben gibt ein überlieferter Vertrag aus dem Jahr 1857 mit dem damaligen Stadtschäfer Johannes Schäfer, wo es heißt: „Der Schäfer übernimmt die hiesige Schafherde und verspricht, solche ordentlich zu hüten, so daß keine Klage gegen ihn entstehen kann.“ Zu seinen Pflichten gehörte damals „auch des Nachts und bei Tag den Pferch nicht ohne Aufsicht zu lassen und jede Nacht dreimal fortzuschlagen,“ dafür bekam er als Lohn „pro Nacht vier Kreuzer.“
Der Stadtschäfer wurde ansonsten in Naturalien und Deputat bezahlt, auch das legt der Vertrag Mitte des 19. Jahrhunderts genau fest: „20 Malter Brodfrucht halb Korn und halb Gerste, 10 Mesten Waitzen und 10 Mesten Schotenfrucht, halb Erbsen und halb Linsen“, außerdem zur eigenen Bewirtschaftung „eine Wiese in der Teufelswiese zum Nutzen von cirka ¼ Morgen Land.“ Andere Stücke Land wurden ihm zugewiesen, um dort das Winterfutter zu gewinnen. Das Recht, Schafe in die städtische Herde abzugeben, bemaß sich in jener Zeit nach dem Steueraufkommen: Auf je 50 Mark Grundsteuerkapital kam ein Schaf, für Ackerbürger (die Bauern der Stadt) war der Tarif niedriger, sie durften schon bei einem Steueraufkommen von 25 bis 50 Mark ein Schaf in die Herde des Stadtschäfers geben. Vor gut einem Jahrhundert brachte die Schäferei der Stadt Hungen auch Gewinn. Nach den Unterlagen im Hungener Stadtarchiv erzielte die Stadt für die Jahre 1894 – 1905 Einnahmen von über 13.000 Mark. Nach Ausgaben von 7.000 Mark blieb der Stadt aus ihrer Schäferei ein Überschuss von etwa 6.000 Mark. Damals gehörten zu fast jeder Hofstelle auch einige Schafe und es bestand „Hutezwang“. Die Schafhalter waren verpflichtet, ihre Schafe vom Stadtschäfer auf die Weiden treiben zu lassen und dafür einen festgesetzten Betrag zu entrichten. Diese Zeiten allerdings sind längst vorbei, „mit der Schäferei kann man als Stadt kein Geld verdienen“, sagt Bürgermeister Rainer Wengorsch, „wir legen jedes Jahr einen gewissen Betrag drauf“. Aber die Schäferei und die Bekanntheit Hungens als „Schäferstadt“, das gehört im Rathaus heute zur Städtewerbung und deshalb „sind wir froh um jedes Schaf, das bei uns in der Gemarkung weidet.“
„Ich wollte Schäfer bleiben“
Ralf Meisezahl (43 J.) ist seit 23 Jahren Stadtschäfer von Hungen. Geboren und aufgewachsen in Apolda machte er eine Schäferlehre in Thüringen und auf dem Hofgut Cavertitz in Sachsen, und arbeitete anschließend als angestellter Schäfer. Dann kam die Wende und während es in der DDR für ein Schaf noch 300 Mark gegeben habe, musste der Schäfer jetzt erfahren „auf einmal war Alles nichts mehr wert“. Mit dem Abwickeln der LPGs verloren auch die Schäfer ihre Anstellung, aber für Meisezahl stand damals schon fest: „Ich hatte Schäfer gelernt, und ich wollte Schäfer bleiben.“ Alles Weitere entwickelte sich ganz schnell. Meisezahl veröffentlichte ein Stellengesuch in einer Fachzeitschrift – und es meldete sich die Stadt Hungen. So wurde er am 1. September 1991 – mit 21 Jahren – der neue Stadtschäfer von Hungen und musste sich neu orientieren: „Ich war große Flächen gewöhnt, Pferchhaltung kannte ich gar nicht.“ Damals hatten die Schafe der Hungener Herde noch 16 verschiedene Besitzer, heute sind es nur noch vier, einer davon ist der Stadtschäfer selbst, der schon immer das Recht hatte, auch eigene Schafe in der Herde mitzuführen.
Gelegentlich aber geht es doch nicht ohne Zäune, in diesem Sommer etwa auf dem Weidestück „Am Wasserfall“ bei Rodheim, einem anderen Stadtteil von Hungen. Das Naturschutzgebiet bot nach Trockenheit nur karge Weiden, aber „solange ich daneben stehe, fressen die nicht, sondern warten, dass wir auf eine bessere Weide ziehen.“ Und so spannen Meisezahl und sein Lehrling Benedikt Schwing (17 J.) einen Elektrozaun und lassen die Schafe allein, bis sie einsehen, dass auch der karge Magerrasen zu beweiden ist. Meisezahl bildet im Moment seinen zweiten Lehrling aus, die Ausbildung wird vom LIFE-Projekt der Europäischen Union finanziert, um die Landschaftspflege in den „Wetterauer Hutungen“ zu unterstützen. Die Weide „Am Wasserfall“ ist mit vier Hektar das größte einzelne Stück der Stadtschäferei, aber es gebe auch Stücke, die sind nur anderthalb Morgen groß, sagt Meisezahl, und „teils so klein, dass sich nur ein Nachtpferch lohnt.“
Es ist aber ohnehin nicht das Grünland des Sommers, das die Schafe mästet, sondern „fett werden sie erst im Herbst,“ wenn sie in dem Ackerbaugebiet nach der Getreideernte auf die Stoppel können. „Ab August bis Mitte Oktober habe ich genug Feldfutter“, sagt der Stadtschäfer, ein Problem aber sei die immer enger gewordene Zeit zwischen Ernte und nachfolgender Wintersaat. Die schlagkräftigen Maschinen im modernen Ackerbau haben für ihn nämlich die Konsequenz: „Das Zeitfenster für die Herbstweide wird immer kleiner,“ und Meisezahl wünscht sich „die Bauern müssten es länger liegen lassen.“ Ganz anders als früher auch wird der Düngerwert der Schafweide heute „nicht weiter berechnet“ – vor hundert Jahren noch hatten die Besitzer von Ackerflächen, auf denen die Schafe weideten, dafür pro Nacht ein Pferchgeld zu zahlen. Um Winterfutter für die Herde muss sich der Stadtschäfer übrigens nicht kümmern, für die beteiligten Schäfer gilt: „Jeder macht sein Winterfutter selber.“ Die Futterwirtschaft für seine eigenen 200 Schafe übergibt Meisezahl an einen Lohnunternehmer, denn er findet „ein Schäfer sitzt nicht ewig auf dem Traktor“. Stroh für seinen Winterstall bekommt er von einem Ackerbauern im Tausch „Stroh gegen Mist“. Sein Winterstall ist dafür passend angelegt, man kann durchfahren und ihn mit dem Frontlader entmisten.
Wenn die Weideflächen nicht gerade an einem der alten Braunkohleseen in der Gegend liegen, muss mit den Schafen auch immer ihre Wasserversorgung weiterziehen. „Wir fahren das ganze Jahr über Wasser“, sagt Meisezahl, seit Kurzem hat er ein 4000-Liter-Fass, dieser Vorrat reicht der Herde für einen ganzen Tag. Finanziert wurde das neue Fass ebenfalls über das LIFE-Projekt „Wetterauer Hutungen“, allerdings umgebaut nach Erfordernissen der Hüteschäferei. So ließ Meisezahl eine große Wanne montieren, in die schnell Wasser einfließen kann, damit viele durstige Schafe nach einem Umtrieb zugleich trinken können. Und er empfiehlt, einen sogenannten C-Anschluss der Feuerwehr anzubringen, um das Fass an Hydranten schnell befüllen zu können. Der Stadtschäfer kann nämlich auf dem Weg zu einer neuen Weide das Wasserfass an den städtischen Hydranten befüllen, die gibt es in jedem Dorf.
Repräsentant der Stadt
Als Stadtschäfer im öffentlichen Dienst nimmt Ralf Meisezahl auch Repräsentationspflichten für die Stadt Hungen wahr, die ja den Beinamen „Schäferstadt“ führt. Wenn er zum Beispiel einen Teil der Herde bei der Landesgartenschau in Gießen zeigt, oder bei der kulinarischen Aktion „Lamm- und Landgenuss“ Besuchern die Schäferei näher bringt. Nicht zu vergessen seine vornehmste Pflicht: Alle zwei Jahre am letzten Sonntag im August führt er beim hessischen Schäferfest die Hungener Schafherde durch die Straßen der Stadt, es ist die Hauptattraktion des Festumzugs, der in diesem Jahr am 31. August stattfindet. Übrigens läuft er mit der Herde stets am Ende des Festzugs, damit die anderen Teilnehmer nicht durch den unvermeidlichen Schafmist laufen müssen. Nur in einem passt die Schäferei nicht so genau zum im öffentlichen Dienst: Eigentlich hätte der Stadtschäfer in Hessen 39 Wochenstunden, aber darüber zuckt Ralf Meisezahl nur die Schultern: „Die habe ich immer donnerstags schon voll.“
Die Story über die Schäferei in Hungen hat mich fasziniert. Ich wünsche mir eine Geschichte über die Ziegenhaltung in unserer Region.
Peter Gwiasda