Biografie über Monika Seifert, Pädagogin der antiautoritären Erziehung
Von Corinna Willführ
Mit ihrer Biografie „Monika Seifert – Pädagogin der antiautoritären Erziehung“ erinnert die Kronberger Professorin Wilma Aden-Grossmann an die Anfänge der Diskussionen Ende der 60er über die Frage, wie Kinder repressionsfrei erzogen werden können- eine Frage, die bis heute nicht beantwortet ist. Das Buch könnte die Diskussion neu beleben – unter Eltern wie unter Pädeagogik-Studenten und Erziehungswissenschaftlern.
Repressionsfreie Erziehung
Ferienende – Schulbeginn. Aus und vorbei die freie Zeit. Jetzt beginnt er wieder der „Ernst des Lebens“ – nicht nur für den Nachwuchs. Denn, wenn die Kinder wieder zum Unterricht oder in erstmals in einen Kita müssen/können, stehen Auseinandersetzungen der Kinder mit den Eltern, unter den Eltern und der Eltern mit den Institutionen an, denen sie ihre Kinder anvertrauen. Was ist das Beste für Max oder Lena?
Mit ihrer Biografie über „Monika Seifert – Pädagogin der antiautoritären Erziehung“ erinnert die Kronberger Professorin Wilma Aden-Grossmann an die Anfänge der Diskussionen Ende der 60er über die Frage, wie Kinder repressionsfrei erzogen werden können. Eine Frage, die bis heute nicht beantwortet ist. Über die mit ihrem Buch wieder neu diskutiert werden könnte – unter Eltern ebenso wie unter Pädagogik-Studenten oder Erziehungswissenschaftlern.
Der Sozialphilosoph Oskar Negt nannte sie die „Mutter der antiautoritären Kinderläden“, ihre Freundin Helga Heubach nach ihrem Tod ein „soziales Genie“. Fakt ist, das Monika Seifert 1967 in Frankfurt den ersten repressionsfreien Kindergarten, die Frankfurter Kinderschule, gründete.
1967 ist das Jahr des Besuchs von Mohammad Reza Pahlavi in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn. 1967 ist das Jahr der Ermordung von Benno Ohnesorg durch einen Polizisten während einer Demonstration gegen den Schah und sein Regime in Berlin. Ein Jahr später demonstrieren die ersten 1000 Studenten in Frankfurt gegen den Vietnam-Krieg. Am Gründonnerstag 1968 wird Rudi Dutschke auf dem Berliner Kurfürstendamm durch drei Schüsse schwer verletzt. Bundesweit demonstrieren Tausende gegen den Vietnam-Krieg und die Berichterstattung der Springer-Presse. Im „Kampf gegen das Patriarchat“ attackieren Feministinnen ihre SDS-Genossen an der Frankfurter Goethe-Uni mit Tomaten.
Über die politischen Aktionen und Aktivitäten der „68er Revolution“, die Straßenkämpfe und Häuserbesetzungen, sind unzählige Publikationen veröffentlicht worden. Aber über die Frau, die in der Zeit, als das Private auch als politisch relevant definiert wurde, eine repressionsfreie Erziehung als Voraussetzung für ein frei bestimmtes Leben forderte, gab es bislang keine umfassende Veröffentlichung.
Diese Lücke schließt die Kronberger Wissenschaftlerin Wilma Aden-Grossmann, Jahrgang 1936, mit ihrem Buch „Monika Seifert – Pädagogin der antiautoritären Erziehung – eine Biografie“. Wilma Aden-Grossmann lehrte als Professorin für Sozialpädagogik an den Universitäten Frankfurt (bis 1986), Dortmund (bis 1989) und Kassel. Seit 2001 ist sie emeritiert.
Eine Biographie zum „Schmöckern“ im „Leben einer Frau, die von vielen geschätzt wurde“, aber dennoch nie eine ihr „angemessene Stellung“ erhalten hat, ist ihr Buch nicht. Unterteilt in 15 Kapitel (.u.a. Studien zu Psychoanalyse und Pädagogik; Monika Seiferts Theorie der antiautoritären Erziehung; Die Kinderschule – das erste Jahr) mit jeweils mehreren thematischen Einzelabschnitten stellt Aden-Grossmann vielmehr das Leben Monika Seiferts in den Kontext der Debatten über Erziehungsformen, wie sie in Ende der 60er/Anfang der 70er diskutiert wurden. Als Wissenschaftlerin belegt sie ihre Ausführungen durch ein umfangreiches Quellenverzeichnis: vom Personenregister bis zu einer Liste zur „Grauen Literatur“, ergänzt sie durch zahlreiche Schweiß-Weiß-Fotos.
Doch die Autorin verbindet mit Monika Seifert mehr als das Interesse an einem „Forschungsgegenstand“: Wilma Aden-Grossmann und Monika Seifert waren mehr als
ein Jahrzehnt befreundet. In vielen kontroversen Debatten diskutierten sie über die Wege für eine alternative Kindererziehung. Deren Ziel: dem Nachwuchs eine größtmögliche Freiheit in seiner Entwicklung auf dem Weg zu einem selbstständigen Individuum zu ermöglichen. „Die normale Kleinfamilie ist der ungeeignetste Ort, Kindern jene ständige liebende Zuwendung (bei gleichzeitigem Freiheitsspielraum) zu garantieren, die sie brauchen“, schrieb Monika Seifert 1970 in ihrem Beitrag „Bange machen gilt nicht mehr“ für die Zeitschrift Politik.
Die Mutter der antiautoritären Kinderläden
Als Wilma Aden-Grossmann mit ihrem Mann Heinz Grossmann 1970 nach Kronberg zog, trennten sich ihre Wege. Das Paar gründete noch im gleichen Jahr mit engagierten Eltern in der Taunusstadt die „Freie Kinderschule“ und den Trägerverein „Sozialpädagogische Praxis“. „Monika Seifert empfand unseren Wegzug und die spätere Einschulung unseres Sohnes in Kronberg als Absage an ihr pädagogisches Konzept. Das beendete zu meinem Bedauern unsere zuvor enge Freundschaft“, so Wilma Aden-Grossmann. Über das Ende ihrer Freundschaft – und auch den Tod von Monika Seifert 2002 – hinaus, beschäftigten die Kronberger Professorin Leben, Wirken und Einfluss der „Mutter der antiautoritären Kinderläden“.
Monika Seifert, 1932 geboren in Berlin, hatte keinen leichten Lebensweg. Als erste von zwei Töchtern aus der Ehe der Ärzte und Psychoanalytiker Melitta und Alexander Mitscherlich erkrankte sie im Alter von sechs Jahren an paralytischer Poliomyelitis, der schwersten Form der Kinderlähmung. Sie überlebte die tückische Krankheit. Doch über Jahre musste die Heranwachsende ein Korsett tragen, nachts in einem Gipsbett liegen. Zur Schule gehen konnte sie nicht. Zeitlebens behielt sie eine sichtbare Krümmung ihrer Wirbelsäule, heute politisch unkorrekt „einen Buckel“.
Ein sichtbares Zeichen des „Andersseins“, das für sie auch bedeutete, dass sie wegen ihrer Behinderung nicht lange stehen oder sitzen und damit auch keine Schule besuchen konnte. Fast ein Jahr lag sie noch als 19-Jährige wegen einer schweren Wirbelsäulenoperation in einer Klinik. Doch das hinderte Monika Seifert nicht daran, ein Studium anzustreben.
Aber ohne Abitur, nicht einmal mit einem formalen Schulabschluss, schien das Ansinnen aussichtslos. Einzig an der Hochschule für Politik in Wilhelmshaven-Rüstersiel bot sich die Möglichkeit für sie, die Allgemeine Hochschulreife zu erreichen. Voraussetzung allerdings: eine abgeschlossene Berufsausbildung nachzuweisen. Monika Mitscherlich erhielt sie nach einer Ausbildung zur Kosmetikerin.
1958 kam die 26-Jährige nach Frankfurt zurück, begann ihr Studium am Institut für Sozialforschung. Im selben Jahr führte sie eine Reise mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) – zwei Jahre zuvor war sie der SPD beigetreten – nach Polen, schrieb von ihrer Reise einen Artikel für die Studentenzeitung „zoon politikon“. Im Oktober wurde Monika Mitscherlich als einzige Frau in den Beirat des SDS-Bundesvorstandes gewählt. Im SDS lernte sie ihren späteren Mann Jürgen Seifert kennen. Am 20. November 1964 kam Anna, die erste Tochter des Paares zur Welt – obgleich Ärzte Monika Seifert aufgrund ihrer Behinderung von einer Schwangerschaft abgeraten hatten.
Eine erneute Abweisung ihrer persönlichen Entscheidungen erhielt Monika Seifert von einem ihr weit näher als die Ärzte-Autoritäten stehendem Mann: ihrem Vater. Der Antrag der jungen Mutter, die mittlerweile ihre Anerkennung als Diplom-Soziologin hatte, eine Lehranalyse am „Sigmund-Freud-Institut“ zu machen, wurde abgelehnt. Den Vorsitz im Genehmigungsgremium führte Alexander Mitscherlich. Doch Monika Seifert resignierte nicht. Über die Volkswagenstiftung erhielt sie ein einjähriges Stipendium für ein Zweitstudium der Psychoanalyse am Tavistock-Institute in London. In die englische Hauptstadt nahm sie ihre Tochter mit. Während Monika Seifert Vorlesungen und Seminare besuchte, wurde Anna in der Kirkdale School betreut. Eine Schule, die sich an den Ideen des „Vaters der anti-autoritären Pädagogik“ A.S. Neill orientierte. Mit deren Modell einer repressionsfreien Erziehung kehrte Monika Seifert nach Deutschland zurück. Da war ihre Tochter zweieinhalb Jahre alt. „Ein traditioneller Kindergarten in kommunaler oder Freier Trägerschaft kam für Monika Seifert nicht in Betracht“, schreibt Wilma Aden-Grossmann. Als Monika Seifert nun das Konzept der Selbstregulierung der kindlichen Bedürfnisse im Kreis der Eltern vorstellte, waren ihre Ideen in Deutschland neu und revolutionär.“
Ideen, die sie aus ihrem Studium unter anderem der Bücher von Wilhelm Reich oder Alexander Neill gewonnen hatte. Auch aus ihrer politischen Arbeit – und den vielen Gesprächen im „Salon Seifert“, in den sie und ihr Mann einluden.
Langfristig wirkender Teil der 68er Bewegung
„Unbestritten ist heute, dass die Kinderladenbewegung ein langfristig wirksamer Teil der 68er Bewegung war, aber damals galt die Gründung dieses repressionsfreien Kindergartens durch Eltern unter den politisch Aktiven, z.B. bei denen, die sich im Häuserkampf engagierten, als politisch und uninteressant“, so Aden-Grossmann. Sicher ist sich die Erziehungswissenschaftlerin, dass die antiautoritäre Erziehung bis heute nachhaltig die Erziehung in Familien, Kindertagesstätten und Schulen beeinflusst hat: in den Regeln des Zusammenlebens, den Erziehungszielen und den Geschlechterstereotypen.
Veränderungen, mit denen die Kinder der Protagonisten einer repressionsfreien Erziehung Ende der 60er und in den 70er Jahren unmittelbar konfrontiert waren, die aber auch mittelbar den Umgang von Eltern und ihrem Nachwuchs sowie die Ansprüche an die institutionellen Betreuungseinrichtungen für Klein- und Schulkinder beeinflussten. Bis heute.
Sieben Jahre lang hat sich Monika Seifert für die repressionsfreie Kinderschule und für die Gründung einer Freien Schule in Frankfurt eingesetzt. Erneute private Traumata, so Aden-Grossmann, führten Anfang der 70er Jahre dazu, dass sie sich aus der pädagogischen Arbeit weitgehend zurückzog. Ihre Bewerbung auf eine Professoren-Stelle an der Frankfurter Hochschule wurde abgelehnt. Ihr Mann hatte sich in eine Studentin verliebt, die Trennung folgte. Bei einem Sturz auf ihrer Kellertreppe verletzte sie sich schwer.
Doch Monika Seifert gab erneut nicht auf. Maßgeblich durch ihr Engagement wurde 1988 die Initiative 9. November in Frankfurt gegründet. Viele Jahre setzte sie sich für die Wiederbelebung jüdischer Kultur an den von den Nationalsozialisten in der Reichspogromnacht von 1938 zerstörten Gebäuden der Mainstadt ein.
Monika Seifert starb am 14. März 2002.
Wilma Aden-Grossmann „Monika Seifert – Pädagogin der antiautoritären Erziehung“ Eine Biographie Verlag Brandes & Apsel, 187 Seiten, 19,90 Euro ISBN 978-3-95558-056-8