Das Verschwinden der Kühe

In Wetzlar beginnt am 1. Juli das Ochsenfest. In den Dörfern gibt es kaum noch Kühe,  2049 beklagt  Landbote-Autorin Ursula Wöll. Sie bedauert das Verschwinden des dörflichen Ambientes, ohne sich allerdings als rückwärtsgewandt zu begreifen. Sie lobt die wenigen verbliebenen Vertreter der artgerechten Kuhhaltung, die nicht nur die Artenvielfalt, sondern auch grüne Wiesen gegen wuchernden Asphalt verteidigen.

Das Ochsenfest und das Verschwinden der Ochsen im Alltag

von Ursula Wöll

Am 1. Juli beginnt das ‚Ochsenfest‘ in Wetzlar, das eine lange historische Tradition hat. Es erinnerte mich daran, dass Kühe fast ganz aus unserer täglichen Umwelt verschwunden sind. Hier in Wetzlar-Dutenhofen hält nur noch Dieter Schäfer etliche dieser schönen Geschöpfe. Im letzten Sommer gab es noch die kleine Herde von Werner Gümbel, mitsamt einem mächtigen, aber harmlosen Bullen. Wenn man von Wetzlar-Garbenheim in den Ort fuhr, sah man sie friedlich grasen oder wiederkäuen, ein oder zwei Kälber in ihrer Mitte. Werner, ein Schulkamerad von mir, musste sie natürlich öfter auf eine neue Weide bringen. Das geschah mit einem Helfer. Beide trieben die Tiere in ein Gatter hinter dem Traktor. Werner fuhr dann im Schritt-Tempo zur neuen Weide, das Rindervölkchen musste hinterhertrotten. Da aber Kühe keineswegs blöd sind, kannten sie den Ablauf und freuten sich wohl auf das frische Gras, denn man vernahm nur vereinzeltes Muhen. Auch am neuen Platz musste für Stromanlage, Wasserwagen und Salzstein gesorgt werden. Solch artgerechte Tierhaltung erfordert viel Arbeit, die man nicht einfach mal auf den nächsten Tag verschieben kann.

1048

Tim Nern (oben)  mit seiner Galloway-Herde und Felix Kramer mit seinen rotbraunen Vogelsberger Höhenrindern.

Werner Gümbel starb leider im Februar und mit ihm sein Hobby, das dem Stadtteil mit den beiden Supermärkten noch einen dörflichen Anstrich gab. Nun wohnen also nur noch die Kühe der Familie Schäfer in Dutenhofen. Einige stehen im Stall, als einzig verbliebene Milchkühe in ganz Wetzlar, deren Milch von der Hochwald-Molkerei in Hungen abgeholt wird. Die anderen sind Ammenkühe und stehen mit ihren Kälbern auf der Weide. Wie schade, dachte ich, dass ein ehemals landwirtschaftlich geprägtes Dorf einen so enormen Rückgang erlebt. Doch auch in den übrigen Stadtteilen fand diese rasante Veränderung statt. Obwohl wir statistisch immer mehr Fleisch essen, sind die Kühe in den Wetzlarer Ortsteilen weitgehend unsichtbar geworden. Unser Fleisch kommt aus wenig artgerechter Massentierhaltung und wird viele Kilometer weit transportiert.

Das Verschwinden der Kühe

Im Stadtteil Steindorf gibt es überhaupt niemanden mehr, der Kühe hält. Dafür entdeckte ich den Vollerwerbsbetrieb Zimmermann in W-Hermannstein, den einzigen in Wetzlar. Seine über 200 Limousin- und Charolais-Fleischkühe grasen hinter Garbenheim auf Weiden der Lahnaue, die weder gedüngt noch gespritzt werden. Zwischen diesen beiden Polen gibt es noch einige Kuhhalter mit wenigen Kühen, die an ihrem Feierabend unserer kulturellen Vielfalt unschätzbare Dienste leisten. In W-Hermannstein sind das Karl-Wilhelm Klees und Erwin Debus, In W-Nauborn stehen acht Ammenkühe auf dem Aussiedlerhof Hofmann. In W- Blasbach sind zwei Halter verblieben, Karlheinz Braun mit sieben weißen Charolais und Dieter Ströhmann, der eine Mutterherde von Charolais-Kühen im Nebenerwerb versorgt und mit ihnen wichtige Landschaftspflege leistet. In W-Naunheim hält der Hof Bittner sieben Kühe,, und in W- Münchholzhausen verblieben Thomas Kinzenbach, aber auch Tim Nern. Der 22jährige gelernte Tierpfleger Nern arbeitet in Frankfurt und versorgt seine kleine Herde nach der Heimfahrt. Sie besteht überwiegend aus zotteligen dunkelbraunen Galloways, die keine Hörner haben. Ein hellfarbener, friedlicher Bulle vervollständigt die Herde. Die Tiere kommen sofort, wenn Nern ihre Namen ruft, sollen aber wegrennen, wenn der Tierarzt auftaucht.

Freudig überrascht war ich, als ich bei meinen Nachforschungen noch auf einen zweiten jungen Halter stieß. In W-Garbenheim hält der 20jährige Felix Kramer sieben rotbraune Vogelsberger Höhenrinder, die in ihrem Bestand gefährdet sind. Von ihnen, die einst in unseren Dörfern üblich waren und Zugdienste leisteten sowie Fleisch lieferten, gibt es noch 400 in ganz Hessen und bundesweit nur wenig mehr. Kramer ist Dachdeckergeselle im elterlichen Betrieb, und auch er schaut täglich nach seinen rotbraunen Tieren. Ich bin dabei, als sie auf eine neue Weide gebracht werden, die glücklicherweise nahe liegt. Eine reizende pastorale Szene – wenn man nur zuguckt wie ich. Kramer muss schuften und springt wie eine Gemse hangauf und -ab. Er sichert den Weg mit Schnüren, füttert Getreideschrot zu und füllt den Wasserwagen mittels langer Schläuche. Beim Treiben helfen ihm seine mit dem Moped eintreffende Schwester Sophie und Cecile Wagner, die selbst Pferde hält. Auch in Kramers kleiner Herde gibt es einen jungen Stier. Die fast erwachsenen Zwillinge, die ab und zu noch an ihrer Mutter saugen, haben einen anderen Vater. Kramers Stier hat Angst vor mir, gleicht also nicht dem Stier der Mythologie, in den sich Zeus verwandelte, um Europa auf seinem Rücken nach Kreta zu entführen. Ich verstehe den Ausreißer, denn auch ich gleiche nicht der jungen und schönen Europa, die unserem Kontinent den Namen gab.

Ob das Fell nun zottelig oder glatt ist, von Kühen geht eine große Ruhe aus, eine kreatürliche Präsenz. Ihr Fressen erzeugt ein monotones leises Geräusch, so dass sich beim Zuschauen Bilder vor mein geistiges Auge schieben. Sieht nicht die mit dem Namen Flora einer Stierzeichnung ähnlich, die unsere Vorfahren vor 12000 Jahren an die Wände der Höhle von Lascaux malten? Dann kommen mir altägyptische Darstellungen der Feldarbeit mit Ochsen in den Sinn, die ebenfalls mehrere tausend Jahre alt sind. Ich denke auch an die 16 großen Kühe aus Stein, die man im Mittelalter auf die Türme der gotischen Kathedrale in Laon setzte, um ihnen Achtung zu zollen. Denn in unserer Geschichte war das Rind unverzichtbar, um die Existenz zu sichern. Während ich zarte Mäuler streichele, sehe ich mich selbst als Kind auf dem Heuwagen, der von zwei Kühen, natürlich Vogelsberger Höhenrindern, gezogen wird. Diese so alte, fast symbiotische Beziehung zwischen Mensch und Rind ist in den Industrieländern nun vorbei.

Traktoren, Fütter- und Melkmaschinen im engen Großstall erledigen alles schneller. Sogar der Schlachthof arbeitet mit Fließband. Viel Futter wird importiert, das woanders Flächen für menschliche Nahrungsmittel verbraucht. Wir in den reichen Ländern können unser Fleisch nun billig kaufen und es täglich auf den Tisch bringen. Aber unterm Strich gesehen: Ist das wirklich Fortschritt, wenn ein Stück Poesie nach dem anderen aus unserem täglichen Blick verschwindet? Ein Hoch also auf die verbliebenen Vertreter der artgerechten Kuhhaltung, die nicht nur die Artenvielfalt, sondern auch grüne Wiesen gegen wuchernden Asphalt verteidigen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert